#022 - Abstrakte Lebenslinien - Teil 1

Eine Lebenslinie, unsere aller Lebenslinie, besteht aus Höhen und Tiefen. Sie schlägt aus. Sie schlägt nach unten und nach oben aus, so wie gerade unser Leben halt so spielt. Wir haben Momente, in denen wir eine hohe Welle reiten, wo uns nichts und Niemand was anhaben kann. Wir fühlen uns gut und transportieren dieses Gefühl auch unbewusst durch unser Verhalten nach außen. Man sieht es uns förmlich an, dass wir uns gut fühlen - körperlich und auch seelisch. Im Gegenzug haben wir auch Momente und Phasen in denen das Leben nicht so auf unserer Seite ist. Wir schwimmen förmlich im trüben Wasser oder befinden uns in einem in die Tiefe reißenden Strudel. Im besten Fall beinhaltet unsere Lebenslinie mehr positive als negative Ausschläge - also mehr Höhen als Tiefen.

 

Wenn ich mir eine Lebenslinie visuell vorstelle, dann hab ich unweigerlich eine Aufzeichnungsnadel eines Seismographen vor meinen Augen. Die Nadel schlägt aus. Nach unten und nach oben. Sie zeichnet mit schwarzer oder roter Tinte jeden Ausschlag, positiv wie negativ, auf ein weißes Blatt Papier. Sogar über vergangene Jahrzehnte können wir so rückblickend visuell nachvollziehen wie unsere Erde, ja, wie wir selbst gearbeitet haben.

 

Mein eigenes Leben habe ich, nicht nur in den zurückliegenden Monaten, in einem einfachen Zeitstrahl festgehalten. Habe die mir bekannten Eckpunkte darin eingetragen. Höhen wie Tiefen. Sie hinterlassen Spuren, hinterlassen detaillierte Fußabdrücke auf meiner Lebenslinie. Die „Höhepunkte“ habe ich mit einem grünen Stift in meinem Zeitstrahl eingetragen, die tiefen Einschnitte mit einem roten Stift. Es ist schon ganz erstaunlich, mitunter auch erschreckend, was da so in 42 Jahren alles zusammengekommen ist. So entsteht aus einem einfachen Zeitstrahl ein Kurvendiagramm der ganz besonderen Art...

 

Wie setzt man eine Lebenslinie jedoch „künstlerisch“ und visuell abstrakt um? Diese Frage konnte ich mir selbst mit meinem ersten Langzeitprojekt stellen. >> Ich finde das Wort Langzeitprojekt nicht wirklich gut, da ich gerade nicht so richtig in „Projekten“ denken möchte, aber gut, ein besseres Wort fällt mir gerade einfach nicht ein... << 

 

Seit 2015 friere ich bewaldete Lichtungen nun in monochrom ein. Halte Momentaufnahmen von aneinander gereihten Baumansichten, Fichten, Tannen, Birken und was weiß ich, wie diese imposanten Erscheinungen alle heißen, fest... Lebensringe! Ich muss an Lebensringe denken. Wie alt sind diese Bäume? Was haben sie alles schon erlebt? Winter wie Sommer stehen sie immerzu am selben Fleck, zeigen uns durch ihre Größe und Erscheinung von außen ihre Stärke. Sie schwingen im Wind, harren jedem Regenwetter aus und können sich im Vorfeld nicht gegen tiefe Wunden von verliebten Paaren wehren, welche ihre Herzchen und Initialen in ihrer Rinde hinterlassen. Wir können das Alter der Bäume nur erahnen. Sehen nicht wie alt sie wirklich sind - 50 Jahre, 100 Jahre oder doch nur jugendliche 18 Jahre? Ihr wahres Alter wird leider erst bei deren Fällung sichtbar! Lebensringe. Jetzt können wir sie sehen und zählen, können ablesen wie alt sie wirklich sind und können vielleicht ein wenig erahnen was sie alles „erlebt“ haben...

 

Ich hab sie mir in den letzten Wochen und Tagen angeschaut. Hab die Bilder auf mich wirken lassen. Hab wieder Abstand genommen. Wieder Gedanken gesammelt. Verworfen. Wieder angeschaut. Leere. Verworfen. Neue Gedanken gesammelt. Die Bilder - die Bäume - sie haben in mir gearbeitet. Tag und Nacht. Nochmal alles von vorne? Nochmal neue Lichtungen suchen? Gedankenüberdenkende Gedanken... Vielleicht musste es auch erst in mir wachsen, vielleicht mussten sozusagen die kleinen Setzlinge erst in mir wachsen - sie mussten in meinen Gedanken erst groß werden bevor sie an die frische Luft durften. Aus Lebensringen wurden Lebenslinien. Das Paradoxe an diesen Bildern, an diesen Lebenslinien, ist der selbige Ausschlag ins Positive wie ins Negative. Ein gespiegeltes Leben? Das Leben ist ein stetes Auf und Ab. Ein Kommen und Gehen. Höhen und Tiefen geben sich die Klinke in die Hand. Sie wechseln sich ab wie Ebbe und Flut. Jedoch sind die Ausschläge nie gleich. Nie gleich Positiv und nie gleich Negativ. Auch wenn dies vielleicht visuell so aussieht, auch wenn wir unsere Lebenslinie - schwarz auf weiß - vor uns liegen sehen, so ist doch unsere Empfindung und unsere Wahrnehmung nicht immer deckungsgleich mit dem, was wir da sehen... 

Lebenslinie 01-1 und Lebenslinie 01-2

Lebenslinie 02-1 und Lebenslinie 02-2

Lebenslinie 03-1 und Lebenslinie 03-2

Lebenslinie 04-1 und Lebenslinie 04-2

Lebenslinie 05-1 und Lebenslinie 05-2

[ Text und Bild © Marco Völzke - archipixel, Februar 2019 ]

einige fotos benötigen farbe, manche kommen ganz gut ohne zurecht, eins haben sie jedoch gemein:
"jedes foto erzählt seine ganz eigene geschichte"